Was passiert, wenn sich vier zeitgenössische Choreographinnen mit Kette, Mühle, Achterrüm, Hamburger Rückschritt, Fürizwänger, Mazurka, Quadrille u.v.m. befassen. Was wenn sie mit je einer Gruppe tanzinteressierter Menschen ihre Choreographien umsetzen und zu einem Abend verbinden. Was wenn wir das Publikum einladen, nicht nur zu gucken, sondern vor allem selbst zu tanzen.
Die herkömmliche Bühnentanz-Praxis besteht darin, dass auf der Bühne getanzt und aus dem Zuschauerraum geschaut wird. Volkstänze sind demgegenüber in erster Linie zum Tanzen da. Ihre Ausübung ist das zentrale Interesse, während das Zusehen nebenbei stattfindet. Für das Projekt „HEUTE: volkstanzen“ hat K3 | Tanzplan Hamburg in Kooperation mit dem Tanzarchiv Leipzig e.V. und der Schaubühne Lindenfels vier Choreographinnen eingeladen, sich ausgehend von ihrer eigenen Praxis, intensiv mit Volkstänzen zu beschäftigen. Jenny Beyer (Hamburg), Heike Hennig (Leipzig), Isabelle Schad (Berlin) und Doris Uhlich (Wien) haben u.a. im Tanzarchiv Leipzig das Material (Fotos, Filme, Musik, Texte etc.) gesichtet und mit ihrer eigenen künstlerischen Arbeit in Verbindung gebracht. Anknüpfend an die Tradition der Volkstanzfeste (bei denen Volkstanzgruppen aus unterschiedlichen Ländern und Regionen zusammenkommen, um sich gegenseitig die Tänze zu zeigen und auch gemeinsam zu tanzen) entsteht ein Abend, an dem das Publikum eingeladen ist, selber zu tanzen und die Tänze der Gruppen zu sehen.
Mit „HEUTE: volkstanzen“ entsteht ein „Volkstanzfest“, das in Hamburg und Leipzig stattfindet, in dem sich die Praxis des Volkstanzens zwischen teilnehmen und zeigen (tanzen und schauen) nicht nur in der Erarbeitung der Produktion, sondern im gesamten Präsentationsformat widerspiegelt. Ziel ist, die in Volkstänzen als körperlich-gemeinschaftliche Praxis liegenden Potenziale theoretisch und praktisch zu erforschen und aus der Perspektive des zeitgenössischen Tanzes zu reflektieren und künstlerisch neu zu erschließen. Dabei werden die Einflüsse von Volkstänzen auf den Bühnentanz im 20. Jahrhundert ebenso untersucht wie ihr Zusammenhang mit Hip-Hop und anderen Tänzen in Gruppenkonstellationen. Die grundlegenden choreographischen und gemeinschaftsbildenden Strukturen des Volkstanzes sollen aus der Perspektive zeitgenössischer Tanzpraxis ausgelotet und deren Potenzial für Teilhabe am zeitgenössischen Tanz und künstlerisch-praktische Tanzvermittlung nachhaltig nutzbar gemacht werden.
Gerade in Deutschland ist Volkstanz – aufgrund seiner vielfachen Instrumentalisierung in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts – oft noch dem Vorwurf einer nationalistischen Auffassung von Kultur ausgesetzt. Darüber hinaus haftet ihm das Image einer überholten Tanzform an, die sich auf veraltete Gesellschafts- und Verhaltensmodelle bezieht. Die Praxis des Volkstanzens ist aber lebendiger und vielfältiger als es solche Vorurteile nahelegen. „HEUTE: volkstanzen“ will u.a. erfahrbar machen, welche Potenziale im gemeinsamen Tanzen liegen und was Volkstänze mit unserer heutigen Alltagskultur zu tun haben.
Konzept, Künstlerische Projektleitung: Matthias Quabbe. Choreographie: Jenny Beyer (Hamburg), Heike Hennig (Leipzig), Isabelle Schad (Berlin), Doris Uhlich (Wien). Wissenschaftliche Mitarbeit: Theresa Jacobs, Patrick Primavesi (Tanzarchiv Leipzig e.V.). Musik: Sebastian Reier aka DJ Booty Carrell. Dramaturgische Assistenz, Projektkoordination: Lina Klingebeil. Assistenz Projektkoordination: Solveigh Patett. Bühnentechnik: Marian Regdosz. Licht: Dennis Döscher. Assistenz Choreographie: Lea Moro (Berlin), Marie Luise Hohmann (Leipzig). Recherche Workshop: Rolf Pauer (Hamburg), Winfried Lotz-Rambaldi (Berlin).
UA 17.10.2013, K3 | Tanzplan Hamburg, Kampnagel
Gefördert von TANZFONDS ERBE – Eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes. In Kooperation mit dem Tanzarchiv Leipzig e.V. und der Schaubühne Lindenfels Leipzig.
Grafik: Paula Franke. Foto: Anja Beutler.