Der Garten als Matrix dramaturgischer Praxis

Die oft beschriebene Differenzierung zwischen Dramaturgie als eine der Performance inhärente Funktionsweise und Dramaturgie als Praxis in Bezug auf die Entwicklung einer Performance ist eine irreführende Betrachtungsweise. Es ist nicht hier die Dramaturgie als Funktion eines fertigen Objekts und dort die Praxis am entstehenden Objekt, getrennt in zwei Sphären. Es ist dasselbe! Der Unterschied liegt in dem Status, der dem Objekt zugewiesen wird, in der Art und Weise, wie Prozess und Material betrachtet werden sowie in der Position, die als/für Betrachtende gewählt wird. Ziel sollte es sein, beides zusammen zu denken, auf der Grundlage, dass Dramaturgie eine Praxis ist, die im Hinblick auf ein zu analysierendes, zu beschreibendes und ein sich entwickelndes Feld agiert.

Dramaturgie, so scheint es, bezieht sich immer auf ein Objekt und auf die Praxis anderer. Sie blickt auf und verhält sich zu etwas, das vor ihr liegt. So ist es problematisch, Dramaturgie an sich zu betrachten: Was ist sie ohne das Objekt auf das sie sich bezieht? Dramaturgie ist jedoch nicht körperlos, vergeistigt, mit dem Material anderer operierend und darauf reagierend. Dramaturgie ist eine Praxis, die Material generiert, das sichtbar und wirksam wird als Gefüge mit Form, Relationen, Inhalt. Sie ist eine Praxis der Annäherung und Zuschreibung, eine Bewegung in und durch ein dynamisches Feld mit spezifischen Qualitäten, Charakteristika und Bedingungen, wo sich Prozess und Design, Entwicklung und Funktion, Denken und Tun, Betrachtung und Material treffen – und definiert sich maßgeblich über die Begriffe mit denen sie operiert.

Um Dramaturgie in diesem Spannungsfeld als solche – ohne sie auf ein Produkt ihres Agierens zu beziehen – beschreiben zu können, unternehme ich den Versuch, sie in eine größere Matrix zu implementieren:

Zentrale Begriffe der dramaturgischen Praxis (wie z.B. Rhythmus, Richtung, Anfang, Ende, Prozess, Autorschaft, Kontext, Bogen, Figur) lassen sich in der Gartenkunst wiederfinden. Durch die Beschreibung der jeweils zugrundeliegenden Konzepte und Definitionen können sie mit einander verknüpft werden und die unterschiedlichen Charakteristika aufeinander abbilden. Eingeordnet im Koordinatensystem verschiedener Gartenkonzepte werden neue Perspektiven auf Charakter und Hintergrund der Begriffe und die damit zusammenhängende konzeptionelle, inhaltliche und kompositorische Arbeit in choreografischen Projekten möglich. Sie geben so den Blick frei auf die diversen Aspekte dramaturgischer Arbeit als gleichermaßen betrachtende und entwickelnde Tätigkeit – mit all ihrer Ambivalenz im Zusammenhang von Konzept/Prozess/Material, Inhalt/Ästhetik/Struktur, Beratung/Zusammenarbeit/Autorschaft.

Ziel ist es, eine Aufstellung von Begriffen dramaturgischer Praxis anzulegen, die einerseits aus der Perspektive der Praxis in choreografischen Projekten und andererseits vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gartenkonzepte eingeordnet und beschrieben werden, um ihre Bezüge, Bedingungen und Wirkungen zu erfassen und zu kontextualisieren. So soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass hinter den Begriffen Ideen stecken, die das Projekt formen und in letzter Konsequenz soziale und politische Implikation mit sich bringen – ebenso in der Dramaturgie wie im Garten. Es soll sichtbar werden was diese Ideen implizieren, was sie in der künstlerischen Arbeit bewirken und wie wir sie in/für die Arbeit in choreografischen Projekten eingesetzt werden können.

Ideen und Konzepte von Dramaturgie manifestieren sich in den Begriffen, mit denen gearbeitet wird.

Sie basieren auf Überzeugungen, Vorstellungen und Erwartungen, die einer bestimmten Vorstellung von der Welt, entspringen, die sich hinter diesen Begriffen verbirgt und die Grundlage für das Denken bildet und sowohl Einordnung als auch Nutzung der Begriffe maßgeblich formt. Wenn die Begriffe derartig geprägt sind und sich in konkreten Anordnungen niederschlagen, dann ließe sich auf Grundlage der Definition dieser Begriffe das entsprechende Weltbild ableiten und so Aussagen über die Bedingungen unseres heutigen (zeitgenössischen) Produzierens treffen. Die Konfrontation der Begriffe mit Entsprechungen in unterschiedlichen Gartenkonzepten soll die zugrundeliegenden Konzepte ihrer Nutzung sichtbar machen und eine Betrachtung verschiedener konzeptioneller Ansätze von Dramaturgie als ganzheitliche Praxis mit (nicht an) konkretem Material, ermöglichen.

So sind z.B. Konzepte von Exklusion und Inklusion ein wichtiger Bestandteil der Dramaturgie (nicht nur hinsichtlich von Publikum, sondern auch in Bezug auf choreografisches Material). Entsprechend lassen sich in der Geschichte und in verschiedenen Kulturen der Gartenkunst unterschiedliche Konzepte der Eingrenzung des Gartens beschreiben, die wiederum Rückschlüsse auf ein jeweiliges Weltbild zulassen. Die Einfriedung ist in der Kulturgeschichte der Gärten ein konstituierendes Element, das seit jeher den Raum in ein Innen und ein Außen teilt und so nicht nur den Zugang (zum Garten, zur sozialen Sphäre, zum Narrativ, zur Arbeit, zum Wissen) regelt, sondern auch Kultur von Natur trennt und die Autorschaft als eine Form von Hoheit manifestiert. In der Geschichte des europäischen Gartens hat sich die Einfriedung über die Jahrhunderte von einer hohen Steinmauer (Mittelalter) zu einer unsichtbaren, eher ideellen, Grenze (Englischer Garten) entwickelt. Wenn wir die damit einhergehenden konzeptionellen Veränderungen bei der Beschreibung von Dramaturgie und die Entwicklung der damit zusammenhängenden Diskurse anwenden, können wir evtl. einen neuen Blick auf aktuelle Konzepte von Zugang und Autorschaft ermöglichen und diesen Aspekt der Anlage choreografischer Projekte präziser beschreiben.

Der Garten – als Idee und als Konstrukt – ist kein alleinig europäisches Konzept. Und dennoch ist die Entwicklung europäischer Gärten und die einhergehende Veränderung der Bausteine und Anordnungen für diese Zwecke eine willkommene Ausgangslage.

Der Garten, der sich ausgehend von der Manifestation eines irdischen Paradieses entwickelt, besticht durch seine zielführende Aufstellung hinsichtlich eines Weltbilds, das Mensch, Gott, Kultur und Natur als Gefüge anordnet und sich durch die Jahrhunderte verändert. Er bietet so einerseits eine einladende Oberfläche um Anschauungen, Einstellungen, Zuschreibungen und vieles mehr abzulesen bzw. hineinzulesen und ins Verhältnis zu setzen. Andererseits bringt er eine Fülle an Instrumenten mit (wie z.B. horizontale und vertikale Ausrichtung, Begrenzung, Einladung etc.), die durch die Jahrhunderte unterschiedlich verwendet werden und so zeigen wie unterschiedliche Zuschreibungen jeweils das Material und seine Wirkung verändern. Wir sehen am europäischen Garten z.B. die Spaltung in zwei Sphären, die grundlegend für einige Betrachtungen ist (z.B. sakrale /säkulare Weltordnung, geistige/körperliche Tätigkeit, männliche/weibliche Arbeit) und so auch relevant wird für die Betrachtung von (Arbeit in) choreografischen Projekten. Gärten aus anderen Kulturkreisen (z.B. der japanische Steingarten oder Gartendarstellung auf Teppichen aus dem antiken Persien) bieten ganz andere Anknüpfungsmöglichkeiten wie z.B. spezifische Charakterisierungen von Zeit und werden deshalb einen weiteren wichtigen Schwerpunkt in der Recherche bilden.

In dieser Recherche geht es um Dramaturgie als Praxis sowie Positionen und Funktionen hinsichtlich der Aufstellung choreografischer Projekte. Daher dient der Garten nicht als Allegorie, die es nahelegen würde, die Rahmung des Ortes, das repräsentative Potential der Konstruktion, die kulturgeschichtliche Entwicklung u.v.m. in ihren Parallelen zu beschreiben. Vielmehr ist der Garten eine Matrix, die es ermöglicht, grundlegende Parameter (der Dramaturgie) zu betrachten, indem sie in einem anderen System (dem Garten) identifiziert und beschrieben werden.

Der Garten dient als vielschichtige und dynamische Konstellation, die Schlüsse zulässt, spezifische Perspektiven ermöglicht und ggf. Verborgenes zu Tage treten lässt – er macht Positionen, Konstruktionen, Funktionen, Relationen und Ökonomien wahrnehmbar.

Die Gartenkonzepte (verstanden als konzeptionelle Anlage, in Abgrenzung zu privaten Gärten) werden insoweit beschrieben, dass sie als Oberfläche dienen können, auf der sich vielfältige Phänomene und Ansätze abbilden lassen. Der Garten bietet auf diese Weise multiple Perspektiven auf die diversen Aspekte von Dramaturgie in choreografischen Projekten und eröffnet so neue Möglichkeiten sie in ihrem Verhältnis zu einem dynamischen Feld zu beschreiben. Anhand von Begriffen der Dramaturgie skizziere ich thematische Felder, um sie in Annäherung an bzw. Abgleich mit Entsprechungen in Gartenkonzepten zu analysieren, zu beschreiben und Potentiale für die dramaturgische Praxis zu definieren. Dafür analysiere ich einerseits diverse Gärten und ihre Anlage und beschreibe Komponenten soweit, dass sie für den Zweck dieser Recherche nutzbar sind. Andererseits sammle und definiere ich Begriffe und Konzepte der Dramaturgie in Literatur und in Gesprächen mit Kolleg:innen, um sie hinsichtlich ihrer Funktionen, Implikationen und Potentiale zu beschreiben und mit denen der Gärten ins Verhältnis zu setzen.

Es entsteht ein Arbeitsbuch für die tägliche Praxis, das angelegt ist wie ein Katalog. Diverse Begriffe der Dramaturgie, ihre Definitionen, Konzepte und Bezugspunkte werden beschrieben in Referenz zu parallelen Begriffen in der Gartenkunst. Durch diese Aufstellung wird sowohl das Vokabular dramaturgischer Praxis erweitert, verschiedene Aufstellungen in choreografischen Projekten skizziert sowie das dynamische Feld in dem sie sich bewegt abgesteckt. Dieses Arbeitsbuch kann kontinuierlich wachsen und sich entwickeln und ist so nicht nur theoretischer Diskurs, sondern eine weitere Ebene praktischer dramaturgischer Arbeit in choreografischen Projekten.

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